Denkfehler #1: Stress kommt von außen, wir werden gestresst und sind hilflos

Ich lade Sie ein zu einem Gedankenexperiment:

Drei Menschen steigen auf einen Berg

Der Erste hat einen äußeren Antreiber. Stellen wir uns vor,  dass hinter ihm ein Zweiter mit einer Peitsche steht. Jedes Mal, wenn unser erster Bergsteiger langsamer geht oder gar stehen bleibt, schlägt sein Hintermann  ihm mit der Peitsche auf den Rücken. Unser erster Bergsteiger wird sich unwillig bewegen, aber er wird in Bewegung bleiben und das auch, wenn sein "Antreiber", der Mensch mit der Peitsche, heimlich stehen bleibt, und seinen Vordermann alleine weiterziehen lässt. Für den Vordermann reicht der Gedanke, er könnte geschlagen werden, als Antrieb aus.

Der zweite Bergsteiger hat einen inneren Antreiber. Er sagt sich beständig: „Ich muss auf diesen Berg steigen. Ich muss trainieren. Um 16:00 Uhr fährt die letzte Bergbahn, die muss ich schaffen.“ Auch er wird eher unwillig in Bewegung bleiben.

Der dritte Bergsteiger freut sich auf die Bergtour. Er sagt sich: „Ich wandere gern. Die Natur ist schön. Je höher ich steige, desto weiter geht mein Blick. Der Alpen­verein sagt ‚300 Höhenmeter in der Stunde ist ganz schön sportlich‘ - wollen doch mal sehen, ob ich das schaffe.“

Drei Menschen sind auf denselben Berg gestiegen d. h., sie haben dieselbe physikalische Arbeit geleistet. Aber werden sie in gleicher Befindlichkeit auf dem Berg ankommen?     Nein.

Vermutlich wird es dem dritten Bergsteiger deutlich besser gehen als den beiden anderen. Es ist also nicht allein die physikalisch verrichtete Arbeit, die uns an­strengt. Auch unsere innere Einstellung spielt eine immense Rolle (und - genau genommen - noch mehrere weitere Faktoren, die ich hier zurückstelle).

Beim Phänomen Stress haben wir eine ähnliche Konstellation. Wer glaubt, dass er an seinem Stress keinen Anteil hat, begibt sich in einen Zustand selbst geschaf­fener Hilflosigkeit. Diese "Hilflosigkeit" ist auf den ersten Blick bequem, denn wir sind für unser Leiden ja nicht verantwortlich. Auf den zweiten Blick blockiert dieses scheinbar  hilflose Elend unsere Selbstheilungs­fähigkeiten, also Ressourcen, die starke Selbstheilungskräfte in uns freisetzen können.

Weil sich viele Menschen in diesem Zustand bequemer Hilflosigkeit eingerichtet haben, ergibt sich zusätzlich ein Herdeneffekt: Es muss richtig sein, weil es ja alle so machen. An einem Wand-Graffiti las ich einmal: „Scheiße muss gut schmecken. Milliarden Fliegen können nicht irren.“

Sind "Stressoren" für uns alle gleich?

Etwas unübersichtlich wird das uns „stressende“ Gelände noch durch eine weitere falsche Annahme: „Stressoren sind für alle Menschen gleich.“

Auch diese Annahme ist ein paar Überlegungen wert: Überlegen Sie einmal für sich, ob sie z.B. das Geräusch eines satt brabbelnden Zwölfzylindermotors stresst oder erfreut, und ob die Freude auch anhalten würde, wenn er sie nachts um drei aus dem Schlaf reißt?

Erfreut oder stresst es sie, wenn jemand ihr Büro betritt mit den Worten „wir müssen alles ganz anders machen“, und einen mehrwöchigen Planungsvorlauf umwerfen will? Erfreut oder stresst sie das Geräusch spielender Kinder? Was freut und was stresst sie? Gilt das, was für Sie gilt, gleichermaßen für alle Menschen? Sicherlich nicht!

Mich zum Beispiel bringen die Stimmen und Rufe spielender Kinder in der Distanz auf gute Gedanken. Wenn die Nachbarskinder im Garten waren, machte ich das Fenster meines Arbeitszimmers auf. Meistens hörte ich gleichzeitig, wie zwei Stockwerke höher eine ältere Dame ihre Fenster mit einem sehr vernehmlichen Klappen schloss. Ihr war schon der Gedanke an Kinderspiellärm zu viel.

Wenn wir uns selber auf die Schliche kommen und erkennen lernen, was uns in unserer Umwelt stresst und was uns entspannt, bekommen wir mächtige Hebel zur besseren Selbststeuerung in die Hand.

Stress ist kein Ungeheuer oder Monster, das in einem Busch hockt und nach dem Zufallsprinzip ausgewählte harmlose Passanten anfällt.

Stress kommt nicht von außen, sondern wir stressen uns selbst, jeder nach seinem Typ  und seiner Vorgeschichte, auf seine persönliche Weise.Stressoren („Stressknöpfe“) sind Typ-Sache (Präferenz) und abhängig von der eigenen emotionalen Prägung. Es gibt Sonderfälle, aber jeder kann entspannen lernen.

Denkfehler #2: Entspannung, d.h. Stressabbau kann nur in der Freizeit stattfinden, nicht jedoch am Arbeitsplatz: Arbeit ist Dauerspannung

Viele Menschen kennen den Begriff work-life-Balance, der ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben als Ziel vorzugeben scheint. Arbeit und Leben scheinen Gegenpole zu sein, sich an unterschiedlichen Enden einer Balkenwaage zu befinden, die es im Gleichgewicht zu halten gilt, will man gesund und leistungs­fähig bleiben. Arbeit und Leben stehen im Widerspruch zueinander, entweder man arbeitet, oder man lebt.

Folgerichtig scheint zu sein, dass Entspannungsseminare in der Freizeit statt­finden, einmal die Woche in einem abgedunkelten Raum, auf einer Wolldecke liegend, veranstaltet durch die Krankenkasse. Arbeitszeit jedoch ist - nach dieser Sichtweise - dunkelrote Dauerspannung. Das war "schon immer so" und "gehe nicht anders". Punkt.

Andere Menschen glauben, dass zur Entspannung ein mindestens dreiwöchiger Urlaub notwendig ist. Darunter "brauche man erst gar nicht anfangen"…  Punkt.

Beide Sichtweisen halte ich für falsch. Arbeitszeit ist Lebenszeit. Wegen Über­lastung ausgefallene Mitarbeiter verursachen hohe Arbeitsausfallkosten, in Deutschland im Moment jährlich mehr als 11 Milliarden €, ganz abgesehen von dem menschlichen Leid, dass damit verursacht wird. Kluge, nachhaltig denkende Unternehmer überfordern ihre Mitarbeiter nicht.

Ich habe eine Zeit lang gebraucht, um zu verstehen, dass es nicht die Arbeits­situation ist, die Menschen krank macht. Als Kommunikationstrainer habe ich unter anderem in Call-Centern an vielen fremdbestimmten Arbeitsplätzen Einzelcoachings durchgeführt. Dabei erlebte ich in mehreren Unternehmen, das zwei Mitarbeiter sehr zeitnah oder sogar am gleichen Tag  eingestellt wurden und über mehrere Jahre sehr ähnliche oder sogar identische Arbeitsplätze hatten. Trotzdem war ihr Gesundheits­zustand sehr unterschiedlich: der eine war gesund und leistungsfähig und der andere hatte eine dicke Krankenakte. Einer antwortete mir auf die Frage wie es ihm gehe: „Danke, sehr gut. Die halbseitige Lähmung, wegen der ich sechs Wochen im Krankenhaus war, ist wieder zurückgegangen.“ Wenn es nur der Arbeitsplatz wäre, der krank macht, müssten beide Mitarbeiter gleich krank oder gleich gesund sein.

Ein Trainerkollege von mir bekam Tinnitus, quälende Ohrgeräusche. Er ging zum Arzt. Der fragte ihn nach seinem Beruf, und sagte dann: „Tja, Herr …, Sie haben einen stressigen Beruf. Arbeiten sie weniger!“ Das war das Ende der ärztlichen Beratung. Der Trainerkollege kam zu mir und sagte, er wolle nicht weniger arbeiten, er arbeite gern, es mache ihm Spaß.

Ich brachte ihm einige, für ihn angepasste Kurzzeit-Entspannungsübungen bei und sagte: „Mache diese Übungen, von denen jede nur ein bis 2 Minuten dauert, siebenmal verteilt über den ganzen Arbeitstag. Gehe nicht gemeinsam mit den Seminarteilnehmern in die Pause, sondern bleibe im Raum, mache eine Kurzzeit-Übung und gehe dann in die Pause. Fahre nicht sofort nach Seminarende auf die Autobahn, sondern bleibe im Raum, mache eine Kurzzeit-Entspannungsübung und fahre dann auf die Autobahn. Schaue nicht, wenn die Möglichkeit besteht, in deine Mails, sondern mache eine Kurzzeit-Entspannungsübung und schaue dann in deine Mails.“

Das Ergebnis dieser neuen Lebensweise war, dass der Tinnitus sich nach drei Wochen abschwächte und nach zweieinhalb Monaten ganz verschwand, ohne dass der Kollege seinen arbeitsintensiven Lebenswandel anderweitig veränderte.

Der geschilderte Fall bedeutet nicht, dass jeder Tinnitus auf diese Art und Weise zu bändigen ist, denn wir bewegen uns in einem Bereich außerordentlich großer Komplexität, aber jeder Fall ist einen Selbstversuch mit Kurzzeit-Entspannungs­methoden wert. Im genannten Beispiel (Kein Einzelfall!) ist es gelungen, einen angespannten Menschen, dessen Körper deutliche Warnsignale gesendet hat, medikamentenfrei, damit nebenwirkungsfrei und ohne Einschränkungen seiner Arbeitszeit und Arbeitskraft wieder zu stabilisieren. Auch ein dreiwöchiger Urlaub hätte ihm bei ansonsten unveränderter Lebensweise vermutlich nicht oder nur vorübergehend weitergeholfen.

In der Medizin gilt der Grundsatz: „Wer heilt, hat Recht.“ Auch für ungewöhnliche Vorgehensweisen soll also gelten: Haben die Vorgehensweisen dazu geführt, dass es dem Probanden deutlich besser geht, waren sie richtig.

Der eigentliche Gegner ist nicht die Anspannung, sondern die Dauerspannung. Wenn es gelingt, diese Dauerspannung mehrmals am Tag zu unterbrechen, ist dies ein wertvoller Beitrag zur Gesundung und zur Gesund­erhaltung am Arbeitsplatz, zur Burnoutprävention. Es ist übrigens auch ein Beitrag zu besserer Konzentrationsfähigkeit. Das bestätigen auch frühe Unter­suchungen zur Leistungsfähigkeit von Mitarbeitern: Gruppen, die pausenlos Rechenaufgaben unter Druck bewältigen mussten, haben weniger weggeschafft und hatten eine höhere Fehlerquote als Gruppen, denen kurze Pausen erlaubt waren. Letztere haben – nota bene – obwohl sie Pausen gemacht haben, insgesamt auch mehr weggeschafft als die Pausenlos-Gruppe.

Wer sich über Jahre hinweg in eine Grundbefindlichkeit der Dauerspannung hineinmanövriert hat, sollte sich ein paar Wochen Zeit geben, bis die regelmäßig angewandten Kurzzeit-Entspannungsübungen Wirkung zeigen. Falls die erwünschte Wirkung sich (noch) nicht - oder noch nicht intensiv genug - einstellt, kann qualifizierte Übungsanleitung durch einen Profi oft weiterhelfen und/oder die Identifikation der individuell verschiedenen Anspannungs­auslöser. Hilfreich in diesem Fall ist ein  Coaching.

Dass jeder Mensch sich, richtig angeleitet, binnen 1 bis 2 Minuten entspannen kann, lässt sich auch mit Anspannungsmessgeräten (Demo-Video, 6:25 min) und durch kinesiologische Muskeltests überzeugend demonstrieren und belegen.

Entspannung in kurzer Zeit, an jedem Ort, auch in Belastungssituationen, ist also keine Frage des ob, sondern des richtigen Know-how, der richtigen Anleitung, der individuell- passgenauen Übungsvorgehensweisen.

Richtig ist also: Wer gelernt hat, wie es geht, kann Leistung und Spannung in Balance bringen und halten, auch und gerade am Arbeitsplatz, z.B. durch wirkungsstarke Mini-Übungen, die Wartezeiten und Pausen sinnvoll nutzen.

Nur entspannte Mitarbeiter sind kreativ, motiviert, ausdauernd und bleiben gesund. Arbeitszeit ist Lebenszeit. Gefordert ist keine work-life-Balance, sondern eher eine work-mind-Balance oder eine work-body-mind-soul-Balance (siehe hierzu auch Denkfehler #6).

Denkfehler #3: Entspannung kommt von allein, durch Nichtstun: Passivsein heißt schon erholen

Um Denkfehler Nummer 3 besser verstehen zu können, hilft es, einen Blick auf die ursprüngliche Funktion von Anspannungsverhalten zu tun.

Ich wurde vor einigen Jahren nach Namibia eingeladen, um dort für die deutschen höheren Privatschulen im südlichen Afrika ein Seminar zu halten. Weil ich schon dort war, beschloss ich, mir eine Woche lang die Wildnis zu besehen, und flog zur Mokuti Lodge an der Etoscha-Pfanne, eine für ihren Wildreichtum berühmte Gegend. Bei geführten Jeepexkursionen hatte ich viele beeindruckende Möglich­keiten, Wildtiere in ihrem natürlichen Habitat zu beobachten. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Die Europäer haben die Uhr erfunden, und die Afrikaner die Zeit.“ Gazellenrudel haben die meiste Zeit am Tag nichts anderes zu tun als friedlich in der Savanne zu stehen und zu äsen, ein ausgesprochen harmonisches Bild, das sich sehr selten – und das sind dann Beobachter-Höhepunkte – und dann blitzartig in eine rasende Flucht wandelt, weil ein hungriger Löwe versucht, eine Gazelle zu erwischen. Nach sechs oder 7 Minuten ist es vorbei, so oder so, und ein neues stundenlanges friedliches Äsen kann beginnen.

Die Grundfunktion unseres eigenen Anspannungsprogrammes reicht in die Savannen-Zeit des Menschen zurück. Es ist eigentlich ein Überlebensprogramm, das uns für sechs oder 7 Minuten Höchstleistung und volle Energie zur Verfügung stellen soll. Anders als im Lebensalltag einer Gazelle hält uns das heutige menschliche Arbeitsleben nicht im Jetzt, sondern in Anspannung. Ich habe Arbeitsplätze besucht und erlebt, an denen – im übertragenen Sinn – alle 10 Minuten ein Löwe durchkommt.

Und das ist zu oft, als dass wir darauf vertrauen könnten, dass „es“ uns von alleine entspannt.

Logische Folge: Wir sollten lernen, uns selbst aktiv zu entspannen.

Ein Mensch hat Feierabend, sitzt auf seinem Sofa, und scheint zu entspannen. Meistens sieht es jedoch nur so aus: In seinem Inneren laufen weiterhin gedankliche Planungsprozesse ab, die seine Entspannung verhindern. ("Ich sollte noch Rasenmähen, die Steuererklärung ist noch nicht fertig, bald kommende Freunde zum Abendessen, und außerdem hat mein Chef eben noch eine E-Mail geschrieben, die mich erst zu Hause auf dem iPhone erreicht hat…").

Unser genetisch fest eingebautes Entspannungsprogramm, das sich vor 50.000 Jahren in der Savanne bewährt hat, ist von den Anforderungen der modernen Zivilisation überfordert. Deswegen ist es notwendig, proaktives entspannen zu lernen, wenn wir uns aus der schädlichen Dauerspannung holen wollen. Still auf dem Sofa sitzen reicht nicht aus. Wenn wir uns selbst nachhaltig gesund erhalten wollen, erfordert das neue „Bedienelemente“ für unsere individuelle, persönliche Selbststeuerung und Selbststabilität.

Richtig ist also: Entspannung erfordert von uns proaktive Verhaltensweisen, eigenes Mitmachen und Gewusst-wie in Einstellung und Denkweisen, einfach und besser als bisher.  

Falsche Einstellung, das falsche Mentalkonzept kann trotz – äußerlich gemachter – Pausen die natürliche Entspannung blockieren, bis zum Burn out, zur völligen Erschöpfung.

Denkfehler #4:
Wir können weitermachen wie bisher.
Die bisherigen Methoden im Umgang mit uns selbst in Unternehmen und im Gesundheits­system genügen.

Die Wirklichkeit in unserer übertakteten Gesellschaft ist so: Die Zahl psychischer Erkrankungen wächst jedes Jahr. Binnen zwanzig Jahren hat sich die Zahl der psychischen Erkrankungen aus dem Arbeitsplatz heraus verdreifacht.

Grafische Darstellung des Anstiegs der Fehlzeiten von Berufstätigen aufgrund psychischer Verhaltsnsstörungen
Quelle: Die Techniker
Arbeitsunfähigkeitsfälle wegen Depression
Quelle: Spiegel 6 / 2012

Dieser Trend ist bis heute, 2020, ungebrochen und scheint zu korrellieren (= zusammenzuhängen, parallel zu laufen) mit dem Trend universeller Erreichbarkeit durch iPhone, E-Mails und andere digitale Helferlein, die uns allgegenwärtig durchs schöne neue digitale Leben begleiten.

Verlässliche Hilfe zur Selbsthilfe scheint nicht in Sicht. So lange die Selbstmord­rate bei Ärzten zweieinhalbmal so hoch ist wie beim Durchschnitt der Bevölke­rung, wird man zumindest sagen können, dass nicht jedes Mitglied der Ärzteschaft qualifizierter Berater bei Überlastungsfragestellungen sein kann, auch wenn es mit Sicherheit hochqualifizierte und kenntnisreiche Ärzte auch zu diesem Thema  gibt.

Nach einem Burnout liegt allein die Wartezeit für den Beginn therapeutischer Hilfe und Kur bei zwei bis vier Monaten, in denen die Betroffenen eher allein­gelassen sind. Es entstehen lange Ausfallzeiten und hohe Kosten, für jeden Betroffenen, die Unternehmen und die Allgemeinheit.

Denkfehler #5:
Anti-Stress-Seminare sind was für „Weicheier“ und „Minder-Engagierte auf Seminarurlaub“  (Zitate aus der Unternehmenspraxis)

Richtig ist: Gerade die Engagierten, die unersetzlichen Leistungsträger sind mehr burnout-  und depressionsgefährdet als das Mittelmaß. Wer sich abfällig über Burnout-Betroffene äußert, vergisst dabei sein eigenes Versagen: zumindest hat im Umfeld das Burnout-Betroffenen niemand rechtzeitig erkannt, dass sich ein Mitarbeiter auf dem kritischen Pfad befand.

Leider ist es in nicht wenigen Unternehmen immer noch so, dass Mitarbeiter „auf Verschleiß gefahren“ werden. Daran haben Führungskräfte einen großen Anteil. Wenn in einem gestressten Team die Führungskraft ausgewechselt wird, zeigt sich häufig, dass die Stressmechanismen mitsamt dieser Führungskraft verschwinden.

Eine nachhaltigere Sichtweise für alle Beteiligten zeigt uns Steven Covey in seinem höchst lesenswerten Buch „Die sieben Wege zur Effektivität“ mit der Fabel von der Gans, die goldene Eier legt:

„Das ist die Geschichte eines armen Bauern, der eines Tages im Nest seiner Lieblingsgans ein glänzendes goldenes Ei entdeckt. Zunächst denkt er, es müsse sich um eine Täuschung handeln. Aber statt das Ei beiseite zu legen, beschließt er doch, es schätzen zu lassen. Das Ei ist aus reinem Gold! Der Bauer kann sein Glück kaum fassen. Am nächsten Tag wiederholt sich das Ereignis, und er staunt noch mehr. Tag für Tag läuft er nach dem Erwachen zum Nest und findet ein goldenes Ei. Er wird sagenhaft reich. Es scheint alles zu schön, um wahr zu sein.

Aber mit seinem wachsenden Reichtum kommen auch Gier und Ungeduld. Der Bauer will nicht mehr jeden Tag auf das goldene Ei warten, sondern die Gans schlachten und alle Eier auf einmal haben. Aber als er die Gans aufschneidet, ist sie leer. Keine goldenen Eier – und keine Möglichkeit mehr, noch welche zu bekommen. Der Bauer hat die Gans vernichtet, die ihm die goldenen Eier produziert hat.

Ich meine, dass in dieser Fabel ein Naturgesetz steckt, ein Gebot – die grundlegende Definition von Effektivität. Die meisten Menschen verstehen Effektivität gemäß dem Paradigma des goldenen Eies so: je mehr man produziert, desto mehr schafft man, desto effektiver ist man.

Aber die Geschichte zeigt, dass wahre Effektivität eine Funktion von zwei Dingen ist: dem, was produziert wird (den goldenen Eiern), und dem produzierenden Faktor oder der Kapazität zu produzieren (der Gans).

Wenn ihr Lebensmuster nur auf goldene Eier ausgerichtet ist und die Gans vernachlässigt, wird es Ihnen bald an dem Faktor fehlen, der die goldenen Eier produziert. Wenn Sie sich andererseits nur um die Gans kümmern und die Eier ignorieren, werden sie bald nichts mehr haben, um sich selbst oder die Gans zu ernähren.

Effektivität beruht auf dem Gleichgewicht – dem, was ich das P/PK- Gleich­gewicht nenne. P steht für die Produktion der gewünschten Ergebnisse, die goldenen Eier. PK steht für Produktionskapazität, die Fähigkeit oder den Faktor, die goldenen Eier zu produzieren.“

Menschen, Teams, Abteilungen, Bereiche, Unternehmen tun gut daran, burnoutgefährdeten Kolleginnen und Kollegen Hilfestellungen zu geben, damit diese wieder in die Balance kommen.

Womit wir beim Thema dieser Internetseite KS-Labs sind ...

Denkfehler #6:
Anspannung entsteht im Kopf und kann nur über den Kopf, also nur durch bewusstes Denken wieder abgebaut werden.

In unserem Bildungssystem bewegen wir uns zumeist im Bereich des bewussten, rationalen,“ vernünftigen“ Denkens. Kopfleistungen des „richtigen“ Erinnerns werden belohnt. Nicht nur ich bezeichne unsere Ausbildungsgänge als “verkopft“. Vielleicht haben wir es dabei immer noch mit den letzten Ausläufern der Auf­klärung zu tun, unter dem berühmten Leitsatz von René Descartes: „Ich denke, also bin ich.“

Die Bewunderung des rationalen Denkens hat beigetragen zu der Vorstellung, dass vernünftiges Denken unsere Welt beherrscht. Der Mensch ist in dieser Vorstellung eine Art Gerüst, das dieses ach so wichtige Großhirn schützt und durch die Gegend trägt. Tiere denken nicht bewusst, der bewusst denkende Mensch stehe einzig da in der Schöpfung, er sei die „Krone der Schöpfung“.

Es war Charles Darwin, der einen Selbstversuch zur Macht des bewussten Denkens unternommen hat. In einem Terrarium, sicher verwahrt hinter hochfestem Glas, hielt man eine angriffslustige und hochgiftige Schlange. Darwin sagte sich: “Ich weiß,“ (vernünftiges Denken) „dass diese Schlange mich nicht verletzen kann, denn zwischen ihr und mir ist dickes Sicherheitsglas. Ich kann also einen Angriff von ihr aushalten, denn die Schlange wird durch die Glasscheibe gestoppt.“ Er näherte daraufhin sein Gesicht, geschützt durch die Glasscheibe, der Schlange, diese griff an – und als sich Charles Darwins „vernünftiges Bewusstsein“ wieder zuschaltete, befand er sich mitten im Raum, mehrere Meter von der Stelle ent­fernt, an der in sein „vernünftiges Bewusstsein“ eigentlich hätte halten wollen.

Jeder kann diese Erfahrung selbst machen, wenn er versehentlich auf eine heiße Herdplatte greift. Im Biologieunterricht in der Schule wurde mir dazu folgendes Reiz-Reaktionsmodell vermittelt: Die Nerven an den Kuppen der Finger empfinden die Hitze und melden diese ans Großhirn. Dieses trifft die vernünftige Entscheidung, die Hand zurückzuziehen und gibt diesen Befehl über die Nerven an die Muskeln. Diese ziehen die Hand zurück.

Wer sich jedoch in so einem Fall selbst beobachtet, stellt fest, dass dieser "Befehlsablauf" in Wirklichkeit auch so läuft. Nur zuckelte unser vernünftiges Bewusstsein der tatsächlichen Aktion damit hinterher: die vernünftige Entscheidung wurde zwar getroffen, aber ein segensreicher, unterbewusster „Reflex“ hat die Hand schon längst vorher zurückgezogen und eine schwerere Verbrennung vermieden.

Seitdem man Menschen in Computertomografenröhren „beim Denken zusehen“ kann, kennt die Hirnforschung auch die Reaktionszeiten: Bis sich beim Menschen ein vernünftiger Gedanke auf den Weg machen kann, braucht es 0,9 Sekunden. Ein Gefühl (z.B. Angst, Ekel, Freude, Panik usw) ist schon nach 0,2 Sekunden unterwegs. Wer also mit vernünftigem Denken versucht, seiner schnell zu­schlagen­den Gefühle Herr zu werden, wird so erfolgreich sein wie ein Radfahrer, der versucht, mit einem Schnellzug mitzuhalten.

Es ist vollkommen richtig, unser staunenswert leistungsfähiges Großhirn als persönlichen Verbündeten nicht aus dem Blick zu verlieren. Wer sich bei seinen Selbstcoaching-Bemühungen jedoch auch an körperlichen Vorgängen, nicht nur am bewussten Denken, sondern auch an seelischen Prozessen u.v.a. orientiert, vervielfacht zwar die Komplexität, gleichzeitig erhält er bessere und viel mehr Ansatzpunkte zur Gelassenheit als über das bewusste Denken. Dass der Körper ein Dreiklang aus Körper, Geist und Seele ist, ist eine historische Vereinfachung. (Zur Frage, ob Vereinfachungen zulässig und sinnvoll sind, hier weiterlesen …)

Oftmals ist die Frage, wie wir unser Bewusstsein austricksen können, viel interes­santer und erfolgversprechender als das „vernünftige Denken“. Das soll nun nicht heißen, dass Esoterik und Irrationalität freie Bahn haben, es könnte aber sein, dass Sie, wenn sie persönlichen Erfolg mit ihrem neuen Stressvermeidungsstrategien haben wollen, dazu die Pfade verlassen sollten, diese in unserem Ausbildungs­system bisher gegangen sind.

Richtig ist also:  Aktive Stressvermeidung bedeutet eine bewusst bewirkte Balance von Körper, Geist und Seele. Nur ganzheitliche Betrachtung (sog. Embodiment) führt weiter.

Ihr Vorteil:  Bessere und mehr Ansatzpunkte für Gelassenheit, als Sie denken, sowohl im Bereich des Selbstcoachings als auch im Bereich der professionellen Helfer.

Hilfe gibt es für jeden, sie ist jedoch nicht für jeden gleich (siehe auch Eisbergmodell gegen Stress)

Denkfehler #7
Gestresstsein sei ein persönliches Problem:  „Das geht niemand etwas an.“

Dauerstressbedingte psychische Erkrankungen aus dem Arbeitsplatz heraus sind zu einem ernsthaften Problem geworden, das hohe Kosten und viel menschliches Leid ver­ursacht. Die Fallzahlen haben sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht (DAK-Gesundheitsreport 2019).

Die bisher getroffenen Maßnahmen reichen nicht aus. Unsere gesamte Gesell­schaft hat bisher zu wenig gelernt, mit Anspannung gut umzugehen. Es läuft etwas gewaltig schief.

Bei stressbedingten Erkrankungen passiert es immer noch zu oft, dass der Betroffene diskret aus seinem bisherigen Wirkungskreis verschwindet und nur das vertrauteste Umfeld mehr über seine konkrete Situation weiß.

Wenn ein Teammitglied „plötzlich“ ausfällt und wochen- oder – nicht selten - monatelang fehlt, ist dies ein mehrfaches menschliches und ein gesamt­gesellschaftliches Versagen:

  1. Führungskräfte haben versagt, denn sie waren nicht in der Lage, die sich aufbauende Notlage rechtzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.
  2. Die Personalentwicklung hat versagt, weil sie weder Mitarbeiter noch Führungskräfte für diesen konkreten Fall so trainiert und befähigt hat, dass die Frühwarnsignale für diesen drohenden Ausfall zu erkennen gewesen wären und man hätte rechtzeitig gegensteuern können.
    Vielleicht werden ja solche Maßnahmen schon im betroffenen Unternehmen angeboten, aber es ist nicht gelungen, die betroffenen Führungskräfte und Mitarbeiter zu erreichen.
  3. Das leitende Management hat versagt, weil – ganz abgesehen vom menschlichen Leid – ein betriebswirtschaftlicher GAU (größter anzunehmender Unfall) eingetreten ist: hohe Kosten entstehen durch Ausfallzeiten, die in keinem Verhältnis zu den wesentlich geringeren Präventionskosten stehen.
  4. Das gesamte Bildungssystem hat versagt, weil es Menschen immer noch zu wenig beibringt, wie sie sich selbst stabil in Balance halten können.
  5. Das Gesundheitssystem hat versagt, weil Vorsorge besser und kostengünstiger wäre als Heilen.
  6. Möglicherweise wird auch der Betroffene selbst das Gefühl haben, versagt zu haben. Im ungünstigsten Fall derart, dass er oder sie glaubt, allein „an allem schuld“ zu sein. Das ist jedoch ein Irrtum.

Zwar gibt es ein Prinzip der Selbstverantwortung für jeden Einzelnen. Wer jedoch andere Menschen benutzt, um gesellschaftliche oder privatwirtschaftliche Ziele zu erreichen, steht auch in der Verantwortung, diese gesund und leistungsfähig zu erhalten.

Unter diesem Deckmantel falsch verstandener Diskretion verbergen sich Hilflosigkeit, Systemmängel, Profitgier und Verantwortungslosigkeit.

Als Herr Peter Meyer, Senior Vice-President bei Bosch, einen Burnout erlitt, ging er proaktiv damit um und startete einen Blog im internen Firmenkommuni­kations­system. Dieser Blog entwickelte sich zum meistgelesenen Blog dieses Unternehmens, ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass viele Menschen unter der Übertaktung unserer Gesellschaft und Wirtschaft leiden.

Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

Wer also einen konstruktiven Beitrag zur Lösung leisten möchte, ist eingeladen, seine bisherigen Denkweisen und Verhaltensweisen auf den Prüfstand zu stellen und anders zu agieren als bisher.

Ich freue mich über konstruktive Kritik, Verbündete, Multiplikatoren, Mitautoren und proaktive, die mithelfen, das adressierte Problem zu untergliedern und zu lösen.

Richtig ist also:  Stressvermeidung geht uns alle an, wollen wir sinnvoll/ verantwortlich handeln.

Ziel ist nicht die völlige Erschöpfung, sondern die Freude aller an der Schöpfung.

Weiterlesen:    Persönliches Stressmanagement - Aller Anfang ist leicht